24. Kapitel
Die Abendsonne tauchte die Bibliothek und die vier anwesenden Vampire in einen orangeroten Schimmer. Helena zog mit dem Zeigefinger am Buchrücken von Bram Stokers Dracula. Er klappte auf, und eine rechteckige Vertiefung kam zum Vorschein, in der eine Karaffe mit Blut und einige Gläser standen.
»Also, wer sind diese tätowierten Mistkerle?«
Sie goss jeweils einen Schuss Blut in mehrere Gläser und reichte sie herum. Cem und William, die beide in Sesseln vor Helenas Schreibtisch saßen, nahmen ihre Drinks dankbar entgegen. Adam dagegen lehnte mit verschränkten Armen an der Schreibtischkante. Helena stellte ihm sein Glas auf den Schreibtisch und lehnte sich mit dem ihren neben ihn.
»Sie nennen sich Protectors of Light, die Beschützer des Lichts. Angeblich verfügen sie über ein sagenhaftes Vermögen, das sie hauptsächlich in antike Schätze investieren.«
Adam beugte sich vor. Die Beschützer des Lichts. Ein typischer Name für einen dieser elitären menschlichen Klüngel. Adam hatte es schon mit mehreren davon zu tun gehabt: den Tempelrittern, dem Opus Dei und anderen freimaurerähnlichen Organisationen. Alle hatten sie eines gemeinsam: Sie waren überzeugt von ihrer absoluten Überlegenheit über den Rest der Welt, und sie hielten sich für ›Hüter des Wissens‹.
Narren, die nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit und ihrem Geld anfangen sollten.
»Mit denen haben wir's wohl noch nicht zu tun gehabt, sonst hätte es bestimmt nicht so lange gedauert herauszufinden, wer sie sind«, meinte Adam. »Sind uns irgendwelche Mitglieder bekannt? Wissen wir, wo sie sich treffen?«
William fuhr sich mit der Hand durch sein kurz geschnittenes Haar. »Leider nein. Aber ich hätte da schon eine Idee, wie wir sie aus ihrer Deckung locken können.«
Er zögerte kurz fortzufahren. »Die Organisation hat es - aus uns bisher noch unbekannten Gründen - auf Miss Donavan abgesehen. Dieser Zeitungsartikel heute war kein Zufall. Die Zeitung hat einen anonymen Tipp über die Identität des Fotografen X erhalten.«
»Man versucht sie aus der Deckung zu locken«, bemerkte Cem.
»Ganz genau.« William griff in eine Aktentasche, die neben seinem Sessel stand, und holte eine unbeschriftete Aktenmappe heraus. »Meine Leute haben Informationen über Miss Donavan gesammelt, seit sie auf so mysteriöse Weise in diesem Fall aufgetaucht ist. Schulzeugnisse, Bankauszüge, Vermögensunterlagen, die ganzen letzten zehn Jahre ihres Lebens sind hier drin.«
Adam streckte den Arm aus und nahm William die Akte weg. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sie zu lesen, und dem, sie zu verbrennen. Er wollte natürlich alles über sie wissen. Aber nicht so.
»Was soll ich damit machen?«
»Nun, meiner Ansicht nach haben wir zwei Möglichkeiten«, sagte William, den Blick auf Adam gerichtet. »Entweder, wir finden heraus, was Miss Donavan mit den Beschützern des Lichts zu tun hat - oder warum sie es auf sie abgesehen haben -, und glaubt mir, ich habe mir auf dem ganzen Flug hierher den Kopf darüber zerbrochen, oder ...«
»Oder?«, fragte Helena.
»Oder wir benutzen Miss Donavan als Köder, um an sie ranzukommen«, erklärte William ruhig.
Jetzt wusste Adam auf einmal, warum William höchstpersönlich gekommen war. Heißer Zorn brodelte in ihm auf.
»Nein«, stieß er heftig hervor.
William zuckte nicht mit der Wimper. »Wir haben keine andere Wahl. Die Lösung wurde gestohlen, und das Geheimhaltungsstatut ist gefährdet. Die Existenz unserer Spezies darf nicht an die Öffentlichkeit dringen! Und das Einzige, was wir haben, ist diese Frau.«
»Ihr Name ist Lea. Und ich lasse nicht zu, dass ihr sie als Köder benutzt!«
»Ich muss Adam zustimmen«, warf nun auch Helena ein. »Es wäre zu gefährlich. Lea hat schon genug für uns getan. Sie jetzt auch noch absichtlich in Gefahr zu bringen, widerspricht unseren Statuten zum Schutz der Menschen.«
»Ich verstehe ja deine Sorge, Chief Murray, aber muss ich dich erst daran erinnern, dass die Protectors of Light jetzt dreißig Fläschchen Lösung in ihrem Besitz haben? Und, wenn wir richtig vermuten, auch Mary Robertsons Blut.
Menschen könnten gegen ihren Willen zu Vampiren gemacht werden. Was ist das Leben einer einzigen Frau gegen das von dreißig Menschen? Ganz zu schweigen von der Sicherheit unserer ganzen Spezies!« William schaute Adam beschwörend an. »Du weißt, wie ungern ich das tue, aber mir bleibt keine andere Wahl, ob du nun dabei bist oder nicht. Dein Urteilsvermögen ist ohnehin schon getrübt, durch deine Sympathien für diese Frau.«
Adam schaute hilfesuchend seine Schwester an, aber ihre Miene war nicht ermutigend. Sie schien Williams Meinung zu sein.
»Nun gut, dann müssen wir eben rausfinden, was für eine Verbindung zwischen Lea und den Beschützern des Lichts besteht«, sagte Adam, der sich nun verzweifelt an die ›andere Möglichkeit klammerte. Zornig fegte er den Schreibtisch leer und schlug die Akte auf. Die anderen traten hinter ihn und lasen mit, während er Seite für Seite Leas Leben durchging.
Bankauszüge. Schulzeugnisse. Universitätsabschluss, Rechnungen ... Und dann diese zwei Fotos. Adam war wie zu Eis erstarrt. Er konnte sich nicht rühren, konnte kaum mehr denken. William musste ihm die Fotos aus den steifen Fingern nehmen.
»Es ist nachts passiert, als sie in Edinburgh unterwegs war. Ein Drogenabhängiger fiel sie an. Er wollte eigentlich nur Geld, aber als er ihr Parfüm roch, verlor er die Kontrolle. Später, vor Gericht, hat er ausgesagt, es hätte ihn an seine Ex-Frau erinnert.« William legte die Fotos seufzend auf den Schreibtisch zurück. »Sie wurde siebenmal in den Unterleib gestochen und dann für tot liegen gelassen.«
»Mein Gott«, hauchte Helena und wandte sich ab.
William zeigte ihnen nun auch das letzte Foto, auf dem ihre Verletzungen zu sehen waren: rote, wulstige Narben und eine offene Stelle, aus der schief etwas Bleiches hervorragte. Darunter stand: Beweisstück F, Teil des Hüftknochens.
»Und was geschah dann?«, fragte Cem tonlos.
»Das spielt keine Rolle. Dieser Uberfall hat nichts mit...«
»Sag schon«, unterbrach Adam ihn grimmig.
»Adam, das hat nichts mit unserem Fall zu tun!«, wehrte William ab.
Cem nahm das nächste Blatt zur Hand und las aus dem Polizeibericht vor. »Lea Donavan lag zwei Wochen lang im Koma. Als sie erwachte, haben sich die Behörden mit ihrem nächsten Angehörigen, ihrem Verlobten Professor David Sands, in Verbindung gesetzt. Professor Sands hat sie einmal besucht und dann verlangt, von der Notfall-Kontaktliste gestrichen zu werden. Miss Donavan war nach ihrer Genesung gezwungen, Sozialhilfe zu beantragen ...«
Cem verstummte, las rasch durch, was noch dort stand.
»Die Sozialwohnung, die man ihr zuteilte, lag in einem Problemviertel. Drei Wochen später lag sie schon wieder im Krankenhaus. Ein Jugendlicher hatte sie eine Treppe hinunter gestoßen. Danach fand sie Hilfe und Unterschlupf bei der HelpingHand Stiftung.«
William seufzte. »Schaut nicht so entsetzt. Danach' ging es ihr ganz gut. Tatsächlich hat sie mit Marco Venettos Hilfe eine fabelhafte Karriere gemacht. Sie hat Millionen verdient.«
Ein Gefühlssturm tobte in Adam: Wut, Eifersucht, Stolz und Sorge.
»So seltsam Miss Donavans Leben auch gewesen sein mag, ich kann keine Verbindung zwischen ihr und den Beschützern des Lichts sehen. Keinen Grund, warum sie zur Zielscheibe dieser Organisation wurde.«
»Und was schlägst du vor?«, fragte Cem.
»Morgen Abend findet der jährliche Halloween-Ball der University of Edinburgh statt. In der Burg. Es gibt keinen besseren Ort als das Edinburgh Castle für das, was wir vorhaben. Ich werde ein paar diskrete Hinweise ausstreuen lassen, dass Fotografin X auf dem Ball erscheinen wird, und dann lasse ich meine Leute am Burgtor Posten beziehen. Das ist ein Nadelöhr, da kommt keiner unbemerkt rein oder raus, ihr werdet sehen.«
Perfekter Ort oder nicht, Adam hatte nicht die Absicht, Lea als Köder benutzen zu lassen. »Das kann doch nicht die einzige Möglichkeit sein, um ...«
In diesem Moment ertönten draußen im Gang laute Schritte, die sich der Bibliothek näherten. Alle vier Vampire blickten zur Tür.
Lea trat ein.
»Lea!« Helena trat einen Schritt auf sie zu.
Lea hob die Hand. »Genug diskutiert. Ich mache es.«
William, der Lea zum ersten Mal begegnete, riss verblüfft den Mund auf. »Woher wissen Sie, was wir hier besprochen haben?«
Sie zog eine Braue hoch. »In einer alten Burg wie dieser gibt es natürlich ein paar Geister. Und Geister sind notorisch neugierig. Sie haben mir von Ihrem Plan erzählt, Lord Bruce, und ich kann Ihnen nur zustimmen: Mein Leben ist nicht das von dreißig anderen Menschen wert.
Oder die Sicherheit Ihrer Leute.«
Leas Blick streifte Adam wie ein Laserstrahl. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie wissen wollen?«
»Lea, ich ...«
Was sollte er sagen? Dass er wütend war? Dass ihm ganz übel war bei dem Gedanken, was sie durchgemacht hatte? Dass er den Kerl, der ihr das angetan hatte, umbringen wollte?
»Miss Donavan, wir danken Ihnen von Herzen für Ihre Hilfe.« Williams Blick war voller Hochachtung. »Und Sie müssen sich keine Sorgen machen. Wir werden nicht zulassen, dass Ihnen etwas zustößt.«
Lea nickte. »Ich werde Marco anrufen müssen. Er wollte morgen ein Dementi zu den Enthüllungen herausgeben.
Damit muss er jetzt noch ein paar Tage warten.«
»Warum?«, fragte Adam ratlos. »Bist du denn nicht stolz darauf, Fotograf X zu sein?«
Lea zuckte mit den Achseln. »Doch, natürlich. Aber ich brauche den ganzen Rummel nicht, um stolz sein zu können. Außerdem sind da noch meine Geister. Ihnen zu helfen ist mir wichtiger als alles andere. Und das könnte ich nicht mehr, wenn jeder wüsste, wer hinter Madame Foulard steckt.«
Er hatte sein Leben dem Schutz seiner Leute geweiht, sie ihren Geistern. Vielleicht waren sie ja gar nicht so unterschiedlich. Vielleicht war sie genau die Frau, auf die er gewartet hatte. Kompliziert. Intelligent. Wunderschön.
Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken hinter Lea.
»So, das wäre geregelt«, sagte William ein wenig verdattert. »Dann machen wir uns jetzt besser an die Arbeit.«